Ich habe mittlerweile, nach fast 10 Jahren, für mich einen Weg gefunden mit der Drogenabhängigkeit meines Sohnes zurechtzukommen. Es hat für mich Jahre gedauert und es war ein Prozess. Schritt für Schritt bin ich da reingewachsen. Anfangs habe ich noch versucht meinen Sohn davon zu überzeugen mit den Drogen aufzuhören, ihn kontrolliert, zur Drogenberatung und zum Suchttherapeuten geschleppt, unzählige Gespräche mit Ihm und seinem damaligen Chef geführt, ihm ständig aus der Patsche geholfen, Geld zugesteckt, ihn in der geschlossenen Psychiatrie besucht, Wohnungen besorgt… etc.
Es ist mir immer schwerer gefallen ihn in seinen psychotischen Phasen zu erleben bzw. zu ertragen, von seinen Straftaten und schweren Körperverletzungen zu hören, wenn wir uns trafen und er mir davon erzählte. Ich erkannte ihn nicht mehr wieder. Daran bin ich fast zerbrochen, weil ich mich gegenüber meinem Sohn nicht abgrenzen konnte… Das ist unheimlich schwer, aber es war notwendig. Dadurch bin ich krank geworden und für ca. 1 ½ Jahre arbeitsunfähig gewesen. Schuldgefühle plagten mich, als Mutter versagt zu haben… Zum Schluss ging gar nichts mehr und ich bin in eine psychosomatische Klinik eingewiesen worden. Dort habe ich angefangen, mich um mich und meine Bedürfnisse zu kümmern. Das war nicht leicht, denn eigentlich wollte ich nur Hilfe, wie ich meinen Sohn dazu bekäme mit den Drogen aufzuhören.
Meine Eltern haben den 2. Weltkrieg körperlich unversehrt überlebt. Nach dessen Ende waren sie noch sehr jung, meine Mutter zählte gerade einmal 15 Jahre, mein Vater war immerhin 22, sollte aber erst mit 28 – nach einer Kriegsgefangenschaft in Russland – wieder in die Heimat kommen. Die unsichtbaren Beschädigungen der Seele lagen jedoch zeitlebens wie dunkle Schatten auf ihnen und damit auf unserer Familie. Alkohol galt in dieser Zeit als probates Heilmittel.
Ich erblickte als Wunschkind das Licht der Welt. Die schrecklichen Kriegszeiten waren zwar vorbei – mittlerweile war das Wirtschaftswunder ausgebrochen – aber es lag ein Mantel des Schweigens über der Vergangenheit. Meine Schwester ist etwas mehr als 4 Jahre älter als ich, sie hat sicherlich noch, mehr als ich, eine Zeit der Entbehrung erlebt. Wir beide hatten aber das Glück eine herzensgute Urgroßmutter mit im Haushalt zu haben. Sie hielt uns fern von vielen dramatischen Familiensituationen. Auch war sie immer für Trost oder eine liebevolle Umarmung zu haben.
So wuchs ich in einer vermeintlich glücklichen Kindheit zu einem 9-jährigen Jungen heran, als unsere Mutter plötzlichen und unerwarteten Familienzuwachs bekannt gab: mein Bruder kam auf die Welt! Als Baby war er ein wahrer Sonnenschein. Ich habe ihn von Anbeginn geliebt und war stets bereit, Betreuungsaufgaben für ihn zu übernehmen.
Das Elternhaus verließ ich schon mit 17 Jahren. Ich fand eine preiswerte kleine Wohnung mit Kohleofen und ohne Bad. Mein Bruder kam gern nach der Schule – oder auch mal spontan – auf einen kürzeren oder längeren Besuch vorbei, häufig begleitet von einer Freundin, einem Freund oder von Schulkolleg*innen. Wir alle genossen die gemeinsamen Zeiten sehr. Mein Bruder auch deshalb, weil er seinen Begleiter*innen elternfreie Zeit und alternative Wohnformen anbieten konnte. Wir feierten hier manche Spontanparty und es kreisten auch schon mal Joints.
Eines Tages nahm mich ein guter Freund meines Bruders zur Seite, um mir im Vertrauen zu offenbaren, dass sich mein Bruder von alten seiner Clique absondere und er nun mit starken Schmerzmitteln, Psychopharmaka und anderen Medikamenten experimentiere.
Von da an änderte sich alles …
Als mein Bruder zu erzählen begann, dass er überall verfolgt werde und davon, dass er zudem jederzeit beobachtet werde, ahnte ich bereits, dass er aufgrund seines hohen Drogenkonsum in eine psychotische Phase abglitt. Seine Nachbarn, war er überzeugt, sowie die VerkäuferInnen und KassiereInnen im Supermarkt, ja auch alle Passanten, würden tuscheln und schlecht über ihn reden. Er hatte gar Angst, denn sogar bis vor seine Haustür werde er verfolgt; nur wenn er schnell genug die Tür aufschloss, konnte er entkommen.
In seiner Wohnung kam er jedoch auch nicht zur Ruhe. Er fantasierte, dass sein Vermieter ihn los werden wolle und daher besonders laut polterte und / oder Musik aufdrehte. Dessen Kinder würden über ihn lachen und ihn bewusst und voller Absicht ärgern. Einmal erzählte er, dass sie im Garten etliche Fliegen eingefangen hätten, die sie unter großen Gelächter in sein Schlafzimmer entlassen hätten.
Ich bin 53 Jahre und Mutter von zwei Söhnen. Bis vor sechs Jahren war mein Leben noch „normal“, bis mir von Heute auf Morgen der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.
Mein ältester Sohn war damals 15 Jahre jung, noch ein Kind, als ich das erste Mal bemerkte, dass er Drogen konsumiert. Ich erinnere mich noch an die Fassungslosigkeit, die mich erfasste. So etwas passiert doch nicht uns. Ich bin glücklich verheiratet, meine Kinder hatten eine außerordentlich glückliche Kindheit, wir wohnen in einem kleinen einfachen Häuschen, es fehlt uns an nichts und alles war so „normal“. Wir haben doch alles richtig gemacht.
Die erste Zeit versuchte ich, meinen Sohn zu erreichen. Es folgten endlose Gespräche, ihm zu erklären, dass Cannabis lediglich eine Einstiegsdroge ist. Drogentests, Belohnungen, Bestrafungen und Beschimpfungen wechselten sich ab. Ein Auf und Ab in den ersten drei Jahren, unendlich viele Aufenthalte in Kinder- und Jugendpsychiatrien und ein Selbstmordversuch. Hoffnung, Verzweiflung, Wut, Resignation bestimmten meinen Alltag.